Donnerstag, März 28, 2024

Interreligiöser Dialog zwischen Aleviten und Christen

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Interreligiöser Dialog setzt – wenn er denn ehrlich gemeint ist – immer zwei wesentliche Bereitschaften voraus: Das Bemühen, etwas zu verstehen von den Vorstellungen des Gegenübers, von dem, was ihm als unaufgebbar oder ‚heilig’ erscheint, und die Bereitschaft, das Gegenüber als Gesprächspartner ohne Vorbehalte ernst zu nehmen und, wenn möglich, sogar sympathisch zu finden.

von Dr. Klaus Thimm

Was diese beiden Voraussetzungen angeht, so gibt es keine Probleme zwischen Aleviten und Christen: Bei drei aufeinanderfolgenden Kirchentagen habe ich mit der alevitischen Theologin Handan Aksünger zusammen vorgetragen und mit dem Publikum diskutiert über Gemeinsamkeiten, Vergleichbarkeiten bzw. Analogien und dann auch die Andersartigkeiten bzw. Unterschiede von alevitischer und christlicher Religion. Dabei bezog ich ‚christliche Religion’ ganz wesentlich auf ihre evangelische Ausprägung, die sehr viel näher bei der alevitischen Religion liegt, als die katholische Ausprägung. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass die zeitlich späteste Integration christlicher Glaubenselemente durch die Aleviten in Anatolien vor 1400 erfolgte – aus den Kontakten mit griechisch-orthodoxen Christen. Aleviten konnten einfach nicht in Kontakt mit Katholiken kommen – ganz unabhängig davon, dass deren Lehre erst danach ihre heutige Ausprägung erhalten hat.  

Eine wichtige Voraussetzung des Dialogs: Offenheit  

Wenn Christen und Aleviten das Gespräch miteinander suchen, dann geht es zum einen um die Frage  nach den Sachverhalten/Themen, über die wir als Christen mit unsern alevitischen Partnern  interreligiöse Gespräche führen möchten. Zum andern geht es aber auch um  Schwierigkeiten und Defizite, die solchen Gesprächen entgegenstehen und die wir klären und aus dem Wege räumen müssen. Wobei es nur fair ist, solche Probleme offen anzusprechen ohne falsche Rücksichtnahmen. Und zum Schluss können wir uns dann an eine umstrittene Frage wagen: Können Christen und Aleviten gemeinsam beten und um Gottes Segen bitten?

Dass wir mit den Aleviten in Frieden und in gegenseitiger Wertschätzung  leben können, daran besteht nach meinen Erfahrungen und den  Ausführungen, die ich in meinem  Beitrag „Wahrnehmung des Alevitentums aus christlicher Sicht“ gemacht habe, kein Zweifel und dazu brauchen wir keine interreligiösen Gespräche. Interessanter wird die Frage, wie die Aleviten möchten, dass wir ihren Glauben sehen – als Religion oder mehr als ein System mit sehr hohen ethischen Standards, aber weniger ‚religiösem Charakter’? Wollen die Aleviten ihren Glauben als Religion anerkannt haben mit allen Attributen und Formalismen, die in unserm Land nun einmal dazu gehören, oder nicht? –   eine Frage, von der ich erlebt habe, dass sie unter Aleviten durchaus unterschiedlich gesehen werden kann  Dass sie als Gesamtheit dann doch lieber den Religionsstatus haben möchten, dafür stand und steht ihr Bemühen um eigenen Religionsunterricht und um eine eigene Hochschulrepräsentanz – und hier sind natürlich weitere Gespräche unerlässlich. Dann kommen weitere und brisantere Fragen wie etwa die, wie evangelische Kirchen die alevitische Religion sehen wollen: als eigenständige Religion oder als eine Richtung oder gar nur eine Sekte des Islam? Und wie steht es mit der Bereitschaft evangelischer Synoden, hier umzudenken und festgefahrene Meinungen und Vorurteile zu korrigieren? Denn mit einer von Synodalen auf der Basis unzureichender Kenntnisse mehrheitlich gegebenen Antwort ‚Teil des Islam’ kann sich für viele Christen ein Fenster zu Befürchtungen öffnen, die Kirchen nicht gerne öffentlich erörtert haben möchten, die sich aber doch nicht unter den Teppich kehren lassen und die trotz aller Versuche, sie wegzudiskutieren, bei vielen Christen doch lebendig sind. Wenn sich evangelische Christen und dann auch Gemeinden oder gar Kirchen durch aggressive Vertreter des Islam oder ‚islamistische Gruppierungen’ bedroht oder beeinträchtigt fühlen –  wie verhält es sich dann mit den Aleviten, wenn diese aus Unkenntnis einfach dem Islam zugeordnet werden?

Qualifizierte Vertretung  im Dialog notwendig

Wenn die alevitische Religion aber uneingeschränkt in ihrer Eigenständigkeit anerkannt wird: Steht dann ein unterschiedliches Gottesverständnis so trennend zwischen uns, dass es schwer fällt, Brücken des Verständnisses zu schlagen?

Damit kommen wir dann zu der letztgenannten Frage – einer Frage, die in dieser Zeit überall in Deutschland hochkommt  und in unterschiedlichen christlichen Kirchen und auch bei Gruppierungen innerhalb ein und derselben Kirche oft sehr kontrovers diskutiert wird: Wer kann und wer möchte bei welchen Gelegenheiten mit Vertretern welcher nichtchristlichen Religion zusammen beten? Eine Frage, die sich konkret gerade bei gemeinsamen Veranstaltungen mit Muslimen stellt. Ich will diesen Konfliktstoff hier gar nicht erst ausbreiten, sondern mich auf die konkrete Frage beschränken: Wie stehen Christen und Aleviten in dieser Frage zueinander?

Das sind einige der Sachfragen, die im interreligiösen Gespräch zwischen Christen und Aleviten Themen sein können. Aber es geht nicht nur um solche Sachfragen, wie sie etwa von Theologen unserer beiden Religionen diskutiert werden können und sollen – es geht auch um Defizite und Schwierigkeiten, die solche interreligiösen Gespräche beeinträchtigen und erschweren können und um deren Klärung sich beide Seiten schon vor solchen Gesprächen bemühen sollten..

Was die christliche Seite angeht, so habe ich in meinem Beitrag über die Wahrnehmung der Aleviten durch die Christen ausgeführt, welche Defizite an Verständnis hier noch bestehen und ausgeglichen werden sollten. Was die alevitische Seite angeht, so gibt es hier Gesprächshindernisse eigener Art, deren Ausgleich  zu einem großen Teil erst Sache kommender Jahre sein können wird.

Ehe ich die  Frage möglicher Gesprächsthemen in  Einzelheiten angehe, möchte mich zunächst der Frage der Gesprächshindernisse zuwenden – und zwar jener Hindernisse und Defizite, die ich auf Seite der Aleviten sehe. Hindernisse und Defizite, für die wir Verständnis aufbringen sollten, dass es einige Zeit dauern wird, bis sie beseitigt sein werden – und bei denen wir fragen sollten, wie wir helfen können, sie schneller aus dem Wege zu räumen. Was also sind Defizite auf alevitischer Seite im Hinblick auf das interreligiöse Gespräch auf allen Ebenen?

1. Das Fehlen alevitischer Hochschultheologen als Ansprechpartner, die die Anliegen der alevitischen Religion bei interreligiösen Gesprächen mit christlichen, jüdischen und islamischen Theologen vertreten können,. Dass dies ein ernsthaftes Defizit darstellt, erfuhr ich einmal von dem Islambeauftragten der EKD, Dr. Affolderbach, der den Aleviten freundlich gesonnen ist und sehr bedauerte, dass auf Einladungen zur Teilnahme an interreligiösen Gesprächen auf hohem Theologenniveau niemals Antworten kamen. Mit der Ausbildung alevitischer Hochschultheologen sollte dieses Defizit schwinden.

2. Nur sehr wenige ‚Dedes’ oder ‚Anas’ als Leiter/Leiterinnen  lokaler alevitischer Gemeinden sind mit dem religiösen Vokabular deutscher Christen so vertraut, dass sie bei lokalen interreligiösen Gesprächen angemessen die alevitische Sicht vertreten können. Auch hier ist darauf zu hoffen und damit zu rechnen, dass sich die Situation im Laufe der Jahre verbessern wird.

3. Eine inhaltsgerechte Übertragung von religiösen Fachausdrücken zwischen der deutschen und der türkischen Sprache ist heute oft noch nicht möglich, weil die Vorstellungen, die sich mit einzelnen Worten aus dem religiösen Fachwortschatz verbinden, völlig unterschiedlich sein können.  Eine solche inhaltsgerechte Übertragung wird eine  ganz wesentliche Aufgabe alevitischer Hochschultheologie sein. (Das von der Alevitischen Gemeinde Deutschland herausgegebene ‚Handbuch interreligiöser Dialog’ ist hier eine sehr hilfreiche Unterlage, leistet aber nicht eine solche Übertragung einzelner theologischer Fachausdrücke, wie sie in der Diskussion unter Theologen benötigt werden.)

4. Hand in Hand gehen dann Defizite, die erst in Angriff genommen werden können, wenn es in Deutschland zumindest ein alevitisches Hochschulinstitut geben wird: Die Dogmatisierung der alevitischen Religion und damit zugleich die Voraussetzungen für eine wissenschaftlich belastbare Abgrenzung der alevitischen Theologie von anderen Theologien wie etwa der christlichen und der  islamischen. Oder – um es auf den Punkt zu bringen: die von alevitischen Theologen zu leistende ‚Nacharbeit’ und Vertiefung alevitischer Glaubensinhalte zu dem theologischen Gutachten, das seinerzeit von Prof. Ursula Spuler-Steegemann erstellt wurde. Eine solche vereinheitlichende ‚Dogmatisierung’ ist deshalb von großer Dringlichkeit, weil mit der weiteren Ausgestaltung des alevitischen Religionsunterrichts bis hin zum Abitur eine Vereinheitlichung der alevitischen Lehre unumgänglich werden wird. Eine solche Vereinheitlichung konnte unter den Verhältnissen in Anatolien nicht geleistet werden, weil in der dortigen Situation jeder Gemeindeleiter/Dede bzw. jede Gemeindeleiterin/Ana  eigene Schwerpunkte in der Verkündigung setzte – von den Unterschieden zwischen ethnisch unterschiedlichen Alevitengruppen wie der osmanischen, der kurdischen und der im Balkan beheimateten Bektashi-Gruppe mit zum Teil eigenen Muttersprachen ganz zu schweigen.

 (Lassen sie mich diese Situation veranschaulichen mit einer Parallele aus der Geschichte der Reformation und zwar bei der Ausbreitung der reformierten Lehre im deutschen Sprachraum. Damals war jede Gemeinde autonom und begann ihren Aufbau und ihre Organisation damit, dass sie ihr eigenes ‚Bekenntnis’ verfasste – zwar im großen Rahmen, wie er von den Schweizer Reformatoren  her vorgegeben war, aber doch mit eigenen Schwerpunktsetzungen und Nuancierungen.  Auch hier kam es erst später zu einer Vereinheitlichung, als man sich auf den ‚Heidelberger Katechismus’ als die für alle verbindliche Bekenntnisschrift einigte.)

 Ein Hinweis auf diese Situation mit heute zum Teil noch weiter existierenden Unterschieden zwischen verschiedenen alevitischen Gemeinden ist für deutsche Gesprächspartner von Aleviten deshalb wichtig oder gar notwendig, weil die Bekanntschaft mit unterschiedlichen alevitischen Gemeinden Unterschiede aufzeigen kann, denen ein Gast, der unterschiedliche Gemeinden kennengelernt und in ihnen unterschiedliche Interpretationen des Alevitentums bekommen hat, solchen Unterschieden verwirrt bis hilflos gegenüberstehen kann..

Merkmale des  Dialogs zwischen Aleviten und Christen

Nach dieser Darlegung von Defiziten für die Rahmenbedingungen  christlich-alevitischer Gespräche, die sich im Laufe der Zeit sicher ausgleichen werden, möchte ich jetzt in Einzelheiten gehen hinsichtlich  möglicher Themen für solche Gespräche. Zugegeben – es sind Themen, die mir persönlich auf Grund meiner eigenen Beschäftigung mit der alevitischen Religion wichtig erscheinen – und ich habe volles Verständnis dafür, dass andere Betrachter andere Schwerpunkte oder Prioritäten setzen.

1.  Gegenseitige Ein- und Wertschätzung

2.  Alevitismus – Eigenständige Religion, Teil des Islam oder System ethischer Handlungsanweisungen?

 3.  Alevitische Lehre in der Entwicklung zur Vereinheitlichung und Dogmatisierung: Ein Beispiel

4. Unterschiedliches Gottesverständnis – trennend oder in gegenseitiger Wertschätzung überbrückbar?

Als besonderen Punkt möchte ich dann die Frage des gemeinsamen Gebets ansprechen

1. Gegenseitige Ein- und Wertschätzung:

Das Bewusstsein, dass mit den Migranten aus der Türkei eben nicht nur der sunnitische Islam, sondern auch eine ganz neue Religion nach Deutschland gekommen ist, hat in den christlichen Kirchen erst sehr langsam um sich zu greifen begonnen und ist heute noch lange nicht Allgemeingut. Die in großen Teilen der deutschen Gesellschaft bis heute weiterbestehende Distanz gegenüber Migranten türkischer Herkunft oder in heute verwendeter Diktion ‚mit türkischem Hintergrund’  hat einer Verallgemeinerung ‚alle Migranten aus der Türkei sind Muslime’ insoweit Vorschub geleistet, als sich viele Deutsche gar nicht erst der Mühe unterzogen haben, sich näher mit diesen Migranten zu beschäftigen und dabei auch nach Unterschieden zu fragen. Und es hat auch lange gebraucht, bis die Aleviten selbst aus dieser ‚Masse’ herausgetreten sind und angefangen haben, sich zu organisieren – alles dazu Wichtige finden Sie in den Beiträgen der Herren Kaplan und Polat. Der Beginn einer Wahrnehmung der alevitischen Religion als einer eigenständigen Religion ist weitgehend Sache persönlicher Kontakte einzelner gewesen – bis hin zu der Erstellung jener beiden Gutachten durch Frau Prof. Spuler-Steegemann und Prof. Muckel, die dann Grundlage wurden für die formale Anerkennung der Eigenständigkeit der alevitischen Religion. Und es ist dann im Wesentlichen bis heute so geblieben, dass es nur wenige evangelische und katholische Christen sind, die das Gespräch mit den Aleviten gesucht und weitergeführt haben mit dem Ziel einer allgemeinen Anerkennung, die in kirchlichen Kreisen immer noch die Ausnahme ist.  Wobei zu bemerken ist, dass sich auf evangelischer Seite auch kirchenleitende Persönlichkeiten für die Belange der Aleviten eingesetzt haben – wenn auch weniger in der Öffentlichkeit, um nicht in jene Auseinandersetzung zwischen Aleviten und türkisch-sunnitischen Muslimen hineingezogen zu werden, die als Folge der durch die Regierung Erdogan besonders intensiv betriebenen ‚Islamisierung’ der Türkei und infolge der Benachteiligung der dort lebenden Aleviten eskaliert. Erster öffentlicher Durchbruch dieser Anerkennung war dann die Teilnahme des damaligen Präsidenten der ACK bei der letzten deutschlandweit-zentralen Sivas-Gedenkfeier in Köln im Jahre 2006, auf die ich noch einmal bei der Frage des gemeinsamen Gebets eingehen werde. Auch die – wenn auch nur im Rahmen der dem Islam zugebilligten Möglichkeiten gestattete und bereits angesprochene –  Präsenz der Aleviten bei drei evangelischen Kirchentagen hat sie als Gesprächspartner für interreligiöse Gespräche ins Blickfeld rücken lassen. Und die laufenden Gespräche mit vornehmlich evangelischen Theologieprofessoren zur Vorbereitung eines alevitischen Hochschulinstituts an einer westdeutschen Universität – wobei die Universität Köln an erster Stelle steht – haben alevitische Theologen und andere Vertreter als Gesprächspartner etabliert.

2.  Alevitismus – Eigenständige Religion, Teil des Islam oder System ethischer Handlungsanweisungen?

Das von Dr. Eißler bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen(EZW)  in Berlin 2010  herausgegebene  Buch „Aleviten in Deutschland“ brachte insoweit einen Durchbruch, als in ihm Vertreter auch unterschiedlicher Richtungen der Aleviten in Deutschland Gelegenheit bekamen, die von ihnen und ihren Anhängern vertretenen und durchaus unterschiedlichen Vorstellungen davon vorzustellen, was aus ihrer Sicht ‚Alevitentum’ ist. Hier äußerten sich auch Vertreter, die im alevitischen Glauben entweder weiterhin einen ganz besonderen Teil des Islam sehen wollten – oder aber mehr ein philosophisch-humanistisches System mit sehr hohen ethischen Ansprüchen an seine Gläubigen. Dieses Buch ist deshalb von unschätzbarem Wert für das interreligiöse Gespräch um und mit Aleviten, weil es zum einen Klärung schafft über das Selbstverständnis des alevitischen ‚mainstreams’ und darüber hinaus über alevitische Seitenzweige und Sonderwege, die es gibt und sicher weiterhin geben wird und weil es zum andern  die Bestätigung einer Eigenständigkeit der alevitischen Religion durch von den Aleviten selbst bestimmte/gewählte Vertreter dokumentiert.

3.  Alevitische Lehre in der Entwicklung zur Dogmatisierung: Ein Beispiel

Als Voraussetzung für interreligiöse Gespräche habe ich bereits eine notwendige Vereinheitlichung und damit auch ‚Dogmatisierung’ der alevitischen Lehre angesprochen. Die von den Aleviten als Aufzeichnungen über ihren Glauben angesehenen Schriften und die zum Teil noch höher bewerteten mündlich tradierten Glaubensaussagen bieten dieselben Schwierigkeiten wie Bibel und  Koran: sie beschreiben die Verhältnisse und die zwischenmenschlichen Probleme zur Zeit ihrer Entstehung und erfassen deshalb nur einen Teil der Lebenswirklichkeit des ‚Hier und Heute’. Und sie bedürfen deshalb einer dauernden Aktualisierung ihrer Interpretation und neuer Auslegungen. Die Vereinheitlichung alevitischer Lehre und teilweise Neufassung der Glaubensaussagen wird deshalb wichtigste Aufgabe eines alevitischen Hochschulinstituts sein – und zugleich unumgängliche Voraussetzung für interreligiöse Gespräche. Im Rahmen einer solchen Vereinheitlichung oder  auch ‚Dogmatisierung’ können dann auch eventuelle Weiterentwicklungen und damit aktuelle Neu- oder Ergänzungsformulierungen der alevitischen Religion anstehen. Dabei ist es verständlich, dass sich eine Mehrzahl der Dedes/ Gemeindeleiter und der Anas/Gemeindeleiterinnen gegen eine solche Dogmatisierung und damit möglicherweise teilweise Neufassung liebgewordener, traditioneller Begriffe sträubt, weil sie da gegebenenfalls ein ‚Abschied nehmen müssen’ von traditionellen Überzeugungen und Formen der Verkündigung auf sich zukommen sieht.  Für ein solches ‚Weiterentwickeln’ gibt es ein interessantes Beispiel – ein Beispiel, das deshalb faszinierend ist, weil es die alevitische Religion als ‚eine lebende Religion’ kennzeichnet im Ringen um neue Erkenntnisse und daraus resultierendes neues Glaubensverständnis:

Wie ich in meinem ersten Beitrag ausführte, war der zeitlich letzte und damit bis heute wirksamste Einfluss auf die alevitische Religion der seitens der schiitischen Ausprägung des Islam – und hier der der sogenannten 12er-Schia als der zeitlich letzten und heute maßstabsetzenden Ausformung dieser schiitischen Ausprägung. Für die Schiiten ist der ‚Heilige Ali’- der Neffe und Schwiegersohn des Propheten Mohammad –  mit seinen Söhnen und deren Nachkommen zentrale Figur ihres Glaubens. Im Laufe der Entwicklung dieser ‚Schia’ hat die Bedeutung des Heiligen Ali immer mehr zugenommen. Bei den Aleviten gibt es zumindest Tendenzen, dem Heiligen Ali eine Bedeutung beizulegen, die sich in eine Richtung bewegt, die sich teilweise schon der von Jesus in der christlichen Dogmatik  annähert: zum einen darin, dass man dem Heiligen Ali im aktuellen alevitischen Schöpfungsmythos schon eine ‚Präexistenz’ beilegt und zum anderen darin, dass man auch für den Heiligen Ali beginnt, zu trennen zwischen der historischen Persönlichkeit, wie sie dokumentiert ist, und Ali als einem ‚Heilsmittler’, an den man auch Gebete richten und den man um Fürsprache bei Gott bitten kann. Wobei es dann zu einer Annäherung an in der christlichen Dogmatik verwendeten Vorstellungen kommt. In dieser Dogmatik wird etwa von einem ‚historischen Jesus’ gesprochen wird, dem ein ‚kerygmatischer’ – d.h. heilswirksamer – Jesus gegenübergestellt wird. Dasselbe ´Veranschaulichungs-Muster’ führt dann in der alevitischen Theologie zu einer ebensolchen Gegenüberstellung von einem ‚historischen’ und einem ‚kerygmatischen’ Ali. Man kommt zu einem als ‚Heilsmittler’ oder wenigstens als ‚Helfer auf dem Weg zum Heil’ verkündigten Ali. Dabei wird die Frage nach der Bedeutung als ‚Heilsmittler’ oder ‚Helfer auf dem Weg zum Heil’ bei den Aleviten sicher ganz anders gesehen  und beschrieben werden müssen als in der Lehre der 12er- Schiiten im Iran, wie sie dort seit der Trennung sicher eine ganz andere Entwicklung genommen hat. Es wird sehr interessant sein, wie eine alevitische Hochschultheologie hier argumentieren und dogmatisieren wird. Wenn sie es so tut, wie es heute als möglich oder gar wahrscheinlich erscheint, dann wird dies eine weitere Analogie sein zwischen christlichen und alevitischen Argumentations-Mustern – und ein weiteres Thema für interreligiöse Gespräche und entsprechende Brückenschläge im Verständnis zwischen beiden Religionen.

4.  Unterschiedliches Gottesverständnis – trennend oder in gegenseitiger Wertschätzung überbrückbar?

In meinem ersten Beitrag habe ich anhand einer schematischen Darstellung das Verständnis des Verhältnisses von Gott und Mensch bei Judentum, Christentum und Islam – als den sogenannten ‚abrahamitischen Religionen’ mit der gleichen monotheistischen Wurzel – verglichen mit dem der alevitischen Religion, wobei hier ‚Graubereiche’ nicht näher diskutiert wurden. In einem gleichsam ‚herausvergrößerten’ und dann nur auf die Gegenüberstellung von Christen und Aleviten beschränkten Teil dieser Darstellung aus dem ersten Bericht möchte ich dieses Verhältnis noch einmal für Christentum und alevitische Religion nebeneinanderstellen.

Bei allen Einwänden, die man in Details dagegen erheben mag, sehe ich diese Nebeneinanderdarstellung als unterstützend an für das interreligiöse Gespräch zwischen Christen und Aleviten, weil sie die Vergleichbarkeit von Vorstellungen veranschaulicht, wie sie jede dieser beiden Religionen unabhängig voneinander für sich entwickelt hat. Anhand dieser Darstellung können Vertreter beider Religionen, die miteinander sprechen, einen Eindruck davon bekommen, was der jeweils andere meint – auch wenn –wie schon angesprochen – präzise Ausdrucksmöglichkeiten dafür noch nicht immer vorhanden sein mögen.

Selbstverständlich sind die  Vorstellungen, die sich Christen und Aleviten von Gott machen, unterschiedlich – der dreieinige Gott der Christen ist nun einmal nicht der Gott, an den die Aleviten glauben – aber es besteht für die Vertreter beider Religionen nicht der geringste Grund darüber zu streiten, ob nun beide an ‚denselben’ Gott glauben oder nicht. Der alevitische Glauben an 72 unterschiedliche Nationen mit ebensoviel Religionen entzieht einem solchen Streit jede Grundlage –und das im Unterschied zum Islam, der in dem zweiten, dem ‚mekkanischen’ Teil des Koran, den Islam als die einzig wahre und etwa gegenüber dem Christentum ‚bessere’ Religion erklärt und bei dem zudem die Frage, ‚ob Christen und Muslime an denselben Gott glauben’, Quelle dauernder Kontoversen ist. Und auch das Menschenbild beider Religionen ist unterschiedlich: Der als einzigartiges Individuum angelegte und für sein Tun und Lassen auch persönlich verantwortliche ‚christliche Mensch’ (und ebenso der ‚islamische Mensch’) ist ein anderer als der ‚Mensch nach alevitischem Verständnis’, dessen Individualität begrenzt ist auf die Zeit, in der auf dieser Erde lebt und in der er eine ihm von Gott eingepflanzte Seele beherbergt. Von Christen und Aleviten wird aber von ‚ihrem Gott’  ein ‚richtiges, gutes Handeln’ eingefordert,  das für beide geradezu ‚deckungsgleich’ ist. Dabei ist aber der ‚alevitische Mensch’ viel stärker als Glied seiner Gemeinde zu sehen als der christliche.  Nach meinem Dafürhalten wird es eine der schwierigen Aufgaben alevitischer ‚Dogmatisierung auf Hochschulniveau’ werden, den ‚alevitischen Menschen’ in die Konkurrenzsituation mit Menschen anderer Religionen zu stellen und zu fragen, wie ein doch für alle Menschen auch außerhalb der alevitischen Glaubensgemeinschaft ‚zuständiger’ Gott  ein ‚böses’, ja ein verbrecherisches Verhalten eines solchen  ‚nicht-alevitischen Menschen’ in Schranken verweisen oder gar ahnden kann.

Was aber vergleichbar oder ‚analog’ ist zwischen christlicher und alevitischer Religion, das ist das Verhältnis zwischen der Ebene Gottes und der der Menschen. Bei Christen und bei Aleviten macht sich ein die Menschen liebender Gott auf, diesen ‚Abgrund der Trennung’ zu überbrücken. Bei den Christen durch die Sendung von Jesus Christus und nach dessen ‚Rückkehr’ durch die Aussendung des ‚Heiligen Geistes’, der sich in der Veranschaulichung der Pfingstgeschichte in der Form einer kleinen Flamme auf jeden der Jünger setzt  – und bei den Aleviten dadurch, dass Gott in jeden Menschen ein Stückchen ‚göttlicher Kraft’ als Seele hineinlegt. Texte der von den Aleviten verehrten Mystiker zeichnen dann ebenso wie Texte christlicher Mystiker ein Gottesbild, das Vergleichbarkeiten bis Gemeinsamkeiten aufweist- Gemeinsamkeiten, die sich sogar finden lassen in  Brieftexten aus dem Neuen Testament.  

Es ist ein Anliegen eines die Menschen liebenden und den engen Kontakt zu ihnen suchenden Gottes, von oben her diesen Abgrund zu überbrücken – und diese Analogie oder Vergleichbarkeit ‚im Handeln Gottes’ ist etwas, was Christen und Aleviten durchaus einander erklären können. Für beide kann es Ansatz sein, um einander ihre Begrifflichkeiten zu erläutern und so ins Gespräch zu kommen. „Was verstehen wir, wenn wir sagen…?“ – das ist eine Frage, die am Anfang jedes um Verständigung bemühten Gespräches steht und nach meinem Dafürhalten und nach meinen Erfahrungen gibt es zwischen Christen und Aleviten mehr Ansatzpunkte für solche Gesprächsaufnahmen als zwischen Christen und Muslimen – besonders, wenn letztere sich auf den zweiten, den ‚mekkanischen’ teil des Koran berufen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es im Gespräch zwischen beiden nicht um gegenseitiges Missionieren zu gehen braucht aus einem –auch unterschwelligen! – Bewusstsein heraus, dass eine der beiden Religionen ’die bessere’ und in ihren Anweisungen zum ‚guten Handeln’ die überlegenere ist: Wie schon gesagt und wie auch von Herrn Kaplan in seinem Beitrag im Grundsätzlichen dargelegt, sind die ethischen Forderungen beider Religionen weitestgehend vergleichbar.

Angesichts dieser Vergleichbarkeiten oder gar Gemeinsamkeiten als gute Grundlage für ein ‚miteinander Auskommen’ sehe ich das unterschiedliche Gottesverständnis als nicht trennend an: Aleviten und Christen können – so meine Überzeugung – sehr gut damit leben.

Die Frage des gemeinsamen Gebets: 

Zur Frage eines gemeinsamen Gebetes von Gläubigen unterschiedlicher Religionen gibt es  – worauf ich bereits hinwies – heute oft kontrovers geführte  Diskussionen und Konfrontationen. Dabei kann – und ich sage das einfach auf Grund von Erfahrungen, auch wenn es theologisch nicht korrekt ist, das anzusprechen –  das Gebet durchaus als Waffe oder als Unterwerfungsgeste missbraucht werden. Und es ist natürlich ein gewaltiger Unterschied, ob im vertrauten kleinen Kreis gebetet wird oder in einer großen Öffentlichkeit. In meinem ersten Beitrag habe ich als Beispiel für ein Gebet im kleinen Kreis die Erfahrung eines gemeinsamen Tischgebetes berichtet, bei dem sich Aleviten und Christen zusammenfanden.

Wie aber verhält es sich mit gemeinsamen Gebeten in der Öffentlichkeit – und möglicherweise in einer Öffentlichkeit im Scheinwerferlicht?

Auch hierzu eine ganz besondere, persönliche Erfahrung. Herr Kaplan hat von jenem Massaker in Sivas in der Türkei berichtet, das für die Aleviten eine geradezu identitätsaufrüttelnde Bedeutung bekommen hat. In Erinnerung an die Opfer jenes Massakers versammeln sich Aleviten jedes Jahr zu einer Gedächtnis- und Trauerfeier. Die letzte deutschlandweite Feier dieser Art fand 2006 in der Kölnarena in Köln statt – mit etwa 18 000 in der großen Mehrzahl jungen und jugendlichen Teilnehmern. Um dieser Feier einen gottesdienstlichen Charakter zu geben, hatte die Alevitische Gemeinde Deutschland erstmals Geistliche oder andere Vertreter aller größeren Religionen, zu denen die Aleviten eine Beziehung haben, eingeladen – und eben auch Christen, wobei die Frage war, wen als Repräsentanten des so vielschichtigen Christentums in unserem Land. An die armenischen Christen war in Erinnerung an gemeinsam erlittene Verfolgungen in der Türkei eine gesonderte Einladung ergangen.  In jener Zeit war Präsident der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche, Dr. Walter Klaiber. Nach guten Gesprächen zeigte er sich bereit, an dieser Feier teilzunehmen und auch ein Gebet zu sprechen ‚im Namen Jesu Christi’. Die Frage, ob bei einer nicht-christlichen Veranstaltung die Veranstalter damit einverstanden sind oder ‚damit leben können’, wenn der christliche Vertreter ein Gebet ‚im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes’ oder gleich ‚im Namen Jesu Christi’ spricht, ist heute entscheidender Indikator  dafür, ob Angehörige unterschiedlicher Religionen einander respektieren und ein gutes oder gar freundschaftliches Verhältnis aufbauen können. Bei dieser maßstabsetzenden  Veranstaltung hatten die  Aleviten keinerlei Vorbehalte gegen ein Gebet ‚im Namen Jesu Christi’ – und das war genau das, was ich erwartete und was den gegenseitigen Respekt und die gegenseitige Wertschätzung unserer Religionen zeigt. Wir beten nicht zu demselben Gott – aber indem wir beten, können wir ‚den Anderen’ der Liebe und der Fürsorge ‚unseres Gottes’ anempfehlen.

Und solches ‚der Liebe und der Fürsorge Gottes anempfehlen’ ist dann auch eine Form der Bitte um den Segen Gottes.

Es gibt Texte im Neuen Testament, die wortwörtlich alevitische Texte sein könnten und in denen sich Christen und Aleviten finden können – auch wenn sich solche Texte immer nur auf das Leben innerhalb von Gemeinden der eigenen Religion beziehen und keine ‚interreligiösen Texte’ sind und sein wollen (eine Klärung, um mögliche Missverständnisse und Unterstellungen auszuschließen). Und ich möchte diesen meinen Beitrag „Interreligiöser Dialog zwischen Aleviten und Christen“  mit einem solchen Text schließen. Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi in Anatolien im 2. Kapitel die Verse 1 – 4, die ich in der Übertragung von Jörg Zink zitiere:

„Es ist doch so: wir nehmen voneinander Mahnungen an, wir lieben und trösten einander, wir gehören durch Gottes Heiligen Geist zusammen, wir sind geübt, aneinander Anteil zu nehmen und alles, was schwer ist, miteinander zu tragen. Wenn dem so ist, dann macht mir eine Freude: Haltet mit ganzem Herzen zusammen: Denkt und sucht und liebt das eine, auf das es ankommt. Tut nichts im Streit oder aus törichtem Ehrgeiz. Lasst die Regel gelten: Jeder ist selbst unwichtig. Wichtig ist immer der andere. Jeder denkt von sich selbst gering und stellt immer den anderen, mit dem er gerade zu tun hat, höher als sich selbst.“

Dieser Text wurde in der Alevitischen Zeitschrift ‚Stimme der Aleviten’ im Juli 2007 abgedruckt in einem Beitrag von mir  mit der Überschrift „Die gemeinsame Bitte um Gottes Segen.“

Die Ausführungen dieses Beitrags umfassen – zusammen mit denen in meinem vorhergehenden Beitrag – das, was ich heute zum christlich-alevitischen Gespräch und Verhältnis sagen kann. Ein Verhältnis, das wohl das entspannteste und am wenigsten erkrampfte zwischen dem Christentum und einer nach Deutschland gekommenen ‚Fremdreligion’ ist und deshalb zukunftsoffen und zukunftsorientiert.

* Hinweis: Leider ließen sich textliche Überlappungen zu meinem vorangehenden Bericht „Wahrnehmung der Aleviten aus christlicher Sicht“  nicht ganz vermeiden – da nämlich, wo derselbe Sachverhalt unter anderen Aspekten angesprochen wird. Diesen Punkt ‚Überlappungen’ habe ich auch in der Einleitung des vorangehenden Berichtes angesprochen.

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