Dersim/Desim – Das Heilige Land (Harde Dewres)
Dersim, auch Desim genannt, ist eine historische Region in Ostanatolien, geprägt von einer zerklüfteten Berglandschaft. Diese Region wurde über Jahrhunderte zum Rückzugsort für religiös und politisch Verfolgte – insbesondere für Alevitinnen. Viele Orte in Dersim gelten bis heute als „Jiare“ – heilige Stätten –, meist Quellen, Felsen, Berge oder besondere Bäume, die tief mit der alevitischen Glaubenswelt verwurzelt sind. Daher bezeichnen die Bewohnerinnen ihr Land im Kirmancki, der hier gesprochenen Sprache, als Jiyar u Diyar – Land der Heiligen oder Region der Heiligkeit. Auch der Begriff Harde Dewres – Land der Derwische – verweist auf die spirituelle Bedeutung dieser Gegend.
Geografisch umfasst Dersim neben der Stadt Tunceli auch Teile der heutigen Provinzen Elazığ (Xarpet), Malatya (Arapgir), Sivas (Divriği, Zara), Erzincan (Kemah, Refahiye, Tercan), Gümüşhane (Şiran, Kelkit), Erzurum (Hınıs), Muş (Varto) sowie Bingöl (Kiğı, Karliova). De heutige Stadt Tunceli umfasst das Kerngebiet des historischen Dersims und gilt als das „Innere“ Dersim. Die Berge boten Schutz – nicht nur vor äußeren Angriffen, sondern auch vor kultureller und religiöser Assimilation.
Sprache, Identität und kulturelles Erbe
Über 70 % der Bevölkerung Dersims sprechen Kirmancki, auch als Zazaki bekannt – eine Sprache iranischer Herkunft. Während einige Wissenschaftlerinnen sie als kurdischen Dialekt einstufen, sehen viele Dersimerinnen Kirmancki als eigenständige Sprache. Begriffe wie Zone Ma (unsere Sprache) oder Zone Desmu (Sprache der Dersimer) unterstreichen die tiefe Verbindung zur einer eigenen Identität. Fremdbezeichnungen wie „Zaza“ werden oft kritisch betrachtet, da sie den Selbstbezeichnungen Kırmanç, Kırmançen oder Sare Desmu nicht gerecht werden.
Die Gesellschaft Dersims ist in Clans (aşîr) gegliedert, deren Ursprünge mythisch auf Stammväter wie Khal Mem und Khal Ferhat zurückgeführt werden. Diese Clans verstehen sich genealogisch wie auch territorial als eigenständige Gemeinschaften. Auch wenn die Şıx Hesenu als Zugezogene aus Khorasan, der Region inm Ost-Iran und heutiges Afghanistan, gelten, verbindet sich heute die gesamte Bevölkerung unter dem Begriff Dersimer*innen. In der bewussten Verwendung von „Kırmançu“ oder „Desmu“ drückt sich bis heute auch eine Distanzierung von einer ausschließlich kurdischen Identitätszuschreibung aus – ein Politikum mit offener Flanke, das selten wissenschaftlich bearbeitet wird.
Dersim: Widerstand, Repression und Völkermord
Schon in der osmanischen Zeit wehrten sich die Menschen Dersims gegen Versuche der Zentralisierung und Gleichmachung. Mit der Gründung der Republik Türkei verschärften sich diese Spannungen. Die sogenannte „Tunceli-Gesetzen“ in den 1930er Jahren bereitete den Boden für eine ethnisch-religiöse Säuberung. 1937/38 wurde Dersim zum Ziel eines staatlich geplanten und durchgeführten Massakers. Zehntausende Menschen wurden ermordet. Überlebende wurden in entlegene Teile Westanatoliens deportiert, Kinder zwangsadoptiert oder in Internate verschleppt – systematisch entfremdet von Sprache und Herkunft.
In Dersim selbst wird dieses Massaker als Tertelê (Untergang, Katastrophe) bezeichnet. Der Völkermord an den Armenier*innen von 1915 wird als Tertelêo Veren (erster Untergang), das Massaker in Dersim als Tertelêo Peen (letzter Untergang) erinnert. Diese Begriffe zeigen die historische und emotionale Verbindung – und das geteilte Bewusstsein einer kollektiven Vernichtung.
Koçgiri – Ein Vorbote des Terrors
Bereits 1920/21 wurde im Gebiet Koçgiri, westlich von Dersim, ein Massaker an der kurdisch-alevitischen Bevölkerung verübt. Der Name Koçgiri geht möglicherweise auf den kurdischen Begriff „goca gır(s)“ – große Wanderung – zurück und beschreibt eine Stammeskonföderation, die sich in den Regionen um Erzincan, Sivas und Maraş ansiedelte. Auch Koçgiri verstand sich als Teil von Dersim.
Das türkische Militär – unter dem berüchtigten Topal Osman und Sakallı Nurettin Paşa – führte eine grausame „Befriedung“ durch: Zehntausende wurden ermordet. Beide Kommandeure hatten bereits beim Genozid an Armenierinnen und Pontos-Griechinnen eine führende Rolle gespielt – und werden bis heute in nationalistischer Geschichtsschreibung verherrlicht.
Staatlich organisierte Amnesie
Die Massaker von Koçgiri und Dersim sind kein dunkles Kapitel, das abgeschlossen ist – sie wirken bis heute nach. Die Türkei verweigert bis heute jede Anerkennung. Die Archive bleiben verschlossen, Gedenkkultur ist verboten. Menschen, die darüber sprechen, riskieren Repression, Strafverfolgung oder Exil. Dabei lebt das Trauma weiter – in den Familien, in der Diaspora, in gebrochenen Biografien und verlorenen Sprachen.
Erinnerung ist Widerstand
Die alevitische Gemeinschaft steht vor der Aufgabe, ihre Geschichte nicht nur zu erinnern, sondern öffentlich zu machen. Das Schweigen zu brechen, ist ein Akt des Widerstands gegen die offizielle Geschichtslosigkeit. In einer Zeit, in der autoritäre Nationalismen und Geschichtsverfälschungen wieder an Stärke gewinnen, ist das Gedenken an Koçgiri und Dersim kein bloßes Erinnern – es ist politische Verpflichtung.