„Die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun“ sagte Mahatma Ghandi. Und heute stehen wir an einem Wendepunkt.
Die politische Landschaft in Deutschland hat sich grundlegend verändert. Der massive Rechtsruck, das Erstarken der AfD und die zunehmende Bereitschaft demokratischer Parteien, rechte Narrative zu übernehmen, sind besorgniserregende Entwicklungen. In dieser Situation kommt der Alevitischen Gemeinde in Deutschland eine besondere Rolle zu – wir setzen uns ein als Brückenbauerin, als Verteidigerin der Demokratie und als Stimme für eine offene, vielfältige Gesellschaft.
Die Erwartungen an die demokratischen Parteien
Die Bundestagswahl ist keine gewöhnliche Wahl – sie ist eine Richtungsentscheidung über die Zukunft der Demokratie in Deutschland. Die Alevitische Gemeinde erwartet von den demokratischen Parteien eine konsequente Haltung gegen rechtsextreme und populistische Strömungen. Die Brandmauer gegen die AfD muss aufrechterhalten werden. Es darf nicht der Versuchung erliegen, Wählerstimmen durch eine Verschärfung migrationspolitischer Maßnahmen zurückzugewinnen.
Ein klares Bekenntnis zu einer offenen und vielfältigen Gesellschaft ist unerlässlich. Migration und Diversität sind Realitäten unseres Landes. Wer sie als Bedrohung darstellt, spaltet die Gesellschaft. Stärkere politische Bildung und Aufklärung gegen Fake News und Desinformation sind ebenso wichtig wie die Förderung von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit. Rechtspopulismus gedeiht dort, wo Menschen sich abgehängt fühlen. Eine gerechte Sozial- und Bildungspolitik ist essenziell, um Radikalisierung entgegenzuwirken.
Maßnahmen gegen den Rechtsruck
Die AfD gibt den Ton an, und andere Parteien übernehmen zunehmend ihre Argumentationsmuster. Dies schwächt nicht nur den demokratischen Diskurs, sondern normalisiert auch extrem rechte Positionen. Demokratische Parteien müssen ein klares Stoppsignal gegen jede Form der Normalisierung rechtsextremer Ideologien setzen. Sie dürfen nicht mit der AfD kooperieren oder ihre Rhetorik übernehmen.
Strengere Maßnahmen gegen Hasskriminalität und rechte Netzwerke sind notwendig. Die Bedrohung durch rechtsextreme Gruppen ist real und betrifft nicht nur Migranten, sondern auch Politiker, Journalisten und Aktivisten. Politische Bildung und Aufklärung über Rechtsextremismus müssen gefördert werden. Demokratie muss gelernt und verteidigt werden. Gerade junge Menschen müssen gestärkt werden, um Desinformation und Radikalisierung zu widerstehen.
Willy Brandt hat gesagt: „Mehr Demokratie wagen.“ Diese Worte sind heute aktueller denn je. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine ständige Aufgabe. Wer sie erhalten will, muss sie aktiv verteidigen – gegen Fake News, gegen rechte Hetze und gegen soziale Ungleichheit.
Migration und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Die Wahlprogramme der Parteien spiegeln den Streit um Migration und gesellschaftlichen Zusammenhalt wider. Während einige progressive Parteien Integration als Chance begreifen, verschieben ohnehin konservative Parteien den Diskurs immer weiter nach rechts. Die Debatte dreht sich kaum noch um Lösungen – sondern um Abschreckung.
Flucht und Migration sind nicht nur Herausforderungen unserer Zeit – sie werden die kommenden Jahrzehnte maßgeblich prägen. Die Geschichte wird uns danach beurteilen, wie wir Geflüchteten begenet sind: Ob wir ihnen Schutz und Perspektiven geboten oder uns hinter Abschottungspolitik versteckt haben. Statt rigoroser Abgrenzung braucht es Einigkeit – in Deutschland, in Europa, in der Weltgemeinschaft. Denn wahre Stärke zeigt sich nicht in Abschottung, sondern in Solidarität und Verantwortung.
Es braucht eine ernsthafte Debatte über Chancengerechtigkeit. Bildung und Arbeitsmarktintegration sind der Schlüssel zu einem erfolgreichen Miteinander. Antidiskriminierung muss im Zentrum der politischen Agenda stehen. Es reicht nicht, symbolische Gesten zu setzen – es braucht strukturelle Veränderungen. Die Stimmen der Zivilgesellschaft müssen gehört werden. Der gesellschaftliche Zusammenhalt entsteht nicht in Parteiprogrammen, sondern in der gelebten Realität.
Die Rolle der Alevitischen Gemeinde
Die Alevitische Gemeinde in Deutschland ist ein lebendiges Beispiel für gelebte Integration und interkulturellen Dialog. Sie ist eine der wenigen Gemeinden, die ihren Glauben erst in Deutschland frei ausleben konnte. Doch das bedeutet nicht, dass sie frei von Herausforderungen ist. Die Alevitische Gemeinde muss ihren Platz in dieser Gesellschaft aktiv gestalten.
Es gibt Parteien, die sich glaubhaft für Minderheitenrechte und interkulturellen Dialog einsetzen. Doch insgesamt bleibt das Bewusstsein für die Belange religiöser und ethnischer Minderheiten in der deutschen Politik ausbaufähig. Die Alevitische Gemeinde erwartet von der Politik, dass sie die institutionelle Anerkennung ihrer Glaubens- und Solidargemeinschaft weiter stärkt. Dazu gehören die Anerkennung als Wohlfahrtsverband, die Einrichtung alevitischer Lehrstühle, Staatsverträge in weiteren Bundesländern und die Verleihung von Körperschaftsrechten.
Antidiskriminierung und der Schutz religiöser Minderheiten müssen aktiv gefördert werden. Interkultureller Dialog darf nicht nur symbolisch, sondern muss strukturell unterstützt werden. Die Anliegen der Alevitischen Gemeinde sind nicht nur glaubensbezogene Fragen – es geht um Demokratie, Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe.
Politische Bildung und Teilhabe
Politische Bildung ist eine zentrale Säule der Arbeit der Alevitischen Gemeinde. Workshops und Seminare zur politischen Teilhabe, die Ausbildung von Demokratieberaterinnen und -beratern sowie die Förderung kritischer Diskussionen zu Demokratie und Menschenrechten sind entscheidend. Es reicht nicht aus, nur zur Wahl zu gehen – wir müssen aktiv mitgestalten.
Die Alevitische Gemeinde setzt sich auch für eine stärkere Beteiligung von Migranten an politischen Prozessen ein. Die AfD zeigt uns, was passiert, wenn Minderheiten nicht genug politische Macht haben. Es braucht mehr politische Bildung für Migranten, erleichterte Einbürgerung und ein kommunales Wahlrecht für langfristig hier lebende Menschen. Integration bedeutet nicht nur Anpassung – sondern Mitgestaltung.
Proteste gegen den Rechtsextremismus
Die Proteste gegen den Rechtsextremismus sind ein starkes Zeichen – aber sie müssen mehr als ein Symbol bleiben. Damit sie eine langfristige Wirkung haben, braucht es politische Konsequenzen: Parteien müssen auf diese Proteste mit klaren Maßnahmen reagieren. Strukturelle Maßnahmen wie Bildung, Schutz vor Hasskriminalität und interkulturelle Projekte sind ebenso wichtig wie langfristiges Engagement.
Die Proteste gegen den Rechtsextremismus sind eine Reaktion auf ein gesellschaftliches Klima, das sich in den letzten Jahren drastisch verschärft hat. Doch diese Proteste zeigen, dass die Mehrheit der Gesellschaft sich dem entgegenstellen will. Damit das aber nicht nur ein Moment bleibt, sondern eine nachhaltige Bewegung wird, braucht es politische Konsequenzen – in den Parlamenten, in den Schulen, in den Medien.
Jetzt ist der Moment zum Handeln. Jetzt ist der Moment, aufzustehen. Denn die AfD ist nicht nur eine Bedrohung für die Vielfalt und die Demokratie dieses Landes. Die Alevitische Gemeinde wird ihr Engagement weiterhin dafür einsetzen, dass dieses Land frei und offen.
Die Alevitische Gemeinde in Deutschland ist mehr als eine religiöse Minderheit – sie ist eine Stimme für Demokratie, Vielfalt und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Unsere Demokratie steht unter Druck. Demokratie ist kein Selbstläufer, sondern muss jeden Tag aufs Neue verteidigt werden.
Von Ufuk Çakır, Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschlands